Reportagen


Ein Hauch von Hamlet

Wenn man sich dem imposanten Treppenaufgang zum Anatomischen Institut nähert, sieht man sie schon von weitem sitzen. Studenten, die sich gerade bei einem Zigarettenpäuschen in der Sonne erholen. Unter den Medizinern, die man am grünen Sezierkittel erkennt, sind auch Kunststudenten in Straßenkleidung.

In der großen, hellen Vorhalle erscheinen Professor Dr. Winfried Neuhuber, Leiter des Anatomischen Instituts und Peter König, Künstler und Lehrbeauftragter an der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg. Der Weg führt noch einmal über Steinstufen nach oben, dann durch einen Seitengang, und wir betreten den Saal der Anatomischen Sammlung.

Überall sind Glasvitrinen mit Präparaten menschlicher Körperteile zu sehen. Dazwischen stehen Tische, an denen die Kunststudenten zeichnen. Die Vorlesung beginnt mit der wissenschaftlichen Seite. Die Kunststudenten bilden einen Kreis um die beiden Dozenten. Heute ist der Schädel an der Reihe. Professor Neuhuber erklärt zunächst die anatomischen Strukturen von Schädel, Gehirn und den Sinnesorganen.

Detailgenau und gut verständlich auch für Nichtmediziner, schildert der Anatom wie der Knochen aufgebaut ist, welche Aufgaben sich einlagernde Mineralsalze haben, damit das Gewebe zum Knochen wird. Und dass der Schädel, ringsum mit Poren versehen, auch ein riesiger Kalziumspeicher ist, weil der Mensch für jede Aktivität in seinen Zellen Kalzium braucht.

Neuhuber vergleicht zwischen dem noch im Wachstum befindlichen Kopfskelett eines neugeborenen Kindes und dem eines Erwachsenen. Es ist ungeheuer faszinierend, wie die Natur sogar etwaige Verletzungen oder Abweichungen der Grundstruktur mit einkalkuliert. So schließen sich die Nähte im Schädeldach erst dann vollständig, wenn der Knochen ausgestaltet ist. Bis dahin bieten die nur mit weichem Gewebe gefüllten Spalten noch gewisse Toleranzmöglichkeiten zur Verformung.

Auch der Kieferknochen bei einem Kleinkind erhält erst dann die endgültige feste Form, wenn auch Zähne entstehen; und er verliert diese feste Form wieder, wenn er sie nicht mehr benötigt; beim alten Menschen, wenn ihm die Zähne ausfallen. Einer der Studenten entdeckt sogar Karies und Zahnstein am Demonstrationsobjekt.

Im künstlerischen Teil erklärt der Maler Peter König anhand seiner Zeichnungen, wie man das Problem Schädel am besten angeht. Er arbeitet seit Jahren an einer vereinfachten Darstellungsweise der menschlichen Anatomie speziell für Künstler. Dabei geht er mit ähnlichem Forscherdrang ans Werk, wie vor ihm schon die alten Renaissancemaler und –bildhauer.

Das Innere entblößen

Wer sich heutzutage der realistischen Darstellung des menschlichen Körpers verschrieben hat, wird an genau 5 Kunstakademien von insgesamt etwa 30 in Deutschland das Fach Anatomie vorfinden. Selbst Kunsthochburgen wie Düsseldorf, Stuttgart und Berlin verzichten völlig auf anatomischen Unterricht.

Bereits an der ersten Kunstakademie Europas, die 1648 in Paris gegründet wurde, fand Anatomie als essenzieller Unterrichtsbestandteil statt. Dass gute Kenntnisse der menschlichen Anatomie unerlässlich sind, das drückte schon Goethe so aus: „Die menschliche Gestalt kann nicht bloß durch das Beschauen ihrer Oberfläche begriffen werden; man muss ihr inneres entblößen, ihre Teile sondern, die Verbindungen derselben bemerken…“

Jedenfalls hat König, dessen Leidenschaft die Anatomie schon seit Beginn seines Studiums war, 1980 erreicht, dass er Zugang zu anatomischen Präparaten erhielt. Damit brachte er den Stein ins Rollen, und die Nürnberger Akademie richtete unter Professor Senft einen eigenen Vorlesungszweig ein. Sie ist somit neben der Dresdner Akademie deutschlandweit die einzige Kunsthochschule, wo Studenten direkt am Präparat arbeiten können.

Inzwischen hat König ein formanalytisches System für Künstler entwickelt. Er zerlegt den Körper zeichnerisch in seine Einzelteile und reduziert Schritt für Schritt jedes Detail auf einfache geometrische Formen, die er dann von innen nach außen wiederzusammenfügt..................

Ohne die entsprechenden elementaren Kenntnisse könne man auch nicht abstrahieren, weil die Abstraktion eine Art Übersetzung sei.

Der „Lebensbaum“

Der Professor lässt die präparierte Hälfte eines sauber in der Mitte geteilten menschlichen Kopfes herumgehen. Dabei entstehen völlig andere Gefühle, als man zunächst erwartet. Keinerlei Unbehagen kommt auf, sondern im Gegenteil, wenn man sich das wunderbare farnartige Gebilde des menschlichen Kleinhirns anschaut, das auch „der Lebensbaum“ genannt wird, wie Neuhuber anfügt, ergreift einen Ehrfurcht vor der Schöpfung. Man möchte sich still bei dem bedanken, der da auch einmal ein Mensch war und jetzt in den Händen der Studenten neue Erkenntnisse liefert………

Auszug, Nürnberger Zeitung